Titelstory; #121/2022, S. 3

19.04.2022

Abrücken von der europäischen Energiewende befürchtet – Importe fossiler Energieträger werden noch schmutziger 

Die Europäische Union befindet sich in einer hausgemachten Energiekrise. Durch den Ukraine-Konflikt werden der Gesellschaft die historischen Versäumnisse der Politik vor Augen geführt. Umso wichtiger ist es, in der aktuellen Krisensituation den Fokus auf die einzigen klimafreundlichen Lösungen zu legen: erneuerbare Energien und Energieeffizienz. Es ist aber zu befürchten, dass aus den Fehlern der Vergangenheit nichts gelernt wird und bestehende Löcher provisorisch gestopft werden. Dadurch würde das fossile Energiesystem verlängert und vor allem die Bevölkerung unnötig zur Kasse gebeten werden. Europa hätte nun die reelle Chance, die Energiewende zu vollziehen. 

ENORME GAS-ABHÄNGIGKEIT 

40 % des gesamten europäischen Gasverbrauches decken russische Gasimporte. In Österreich sind es sogar 80 %. Ein Importstopp wäre eine Katastrophe und würde Österreich unweigerlich in die Rezession führen, bestätigte WIFO-Chef Gabriel Felbermayr. Europa zahlt täglich (!) 1 Mrd. Euro für russische Gas- und Öllieferungen. Österreich importierte 2021 Erdölprodukte im Wert von 7,3 Mrd. Euro sowie Erdgas um 4,2 Mrd. Euro. 

JETZT WIRD ES SCHMUTZIGER 

Das kurzfristige Ziel der EU ist es, neue Lieferländer ins Boot zu holen wie beispielsweise Algerien. Das Problem sind aber die größtenteils fehlenden Pipelines. Auch die USA werden Europa (Flüssig-)Gas liefern – sogenanntes LNG. Es handelt sich um Fracking-Gas, das aus dem Boden „herausgebrochen“ wird und beispielsweise in Texas ganze Landstriche verunstaltet. Dieses muss natürlich mit Tankern nach Europa gebracht werden, genauso wie LNG aus dem Nahen Osten – einer Gegend, die nicht gerade für Frieden, Menschenrechte und Demokratie bekannt ist. 

„Die LNG-Fantasien“ als Ersatz von russischem Gas wurden selbst vom OMV-Generaldirektor Alfred Stern entzaubert, indem er deutlich machte, dass diese Alternative erst beträchtliche Investitionen erfordern und keinesfalls kurzfristig in nennenswertem Umfang in Österreich zur Verfügung stehen würde. 

MEHR KOHLE UND ATOM 

Eine weitere Konsequenz der gestiegenen Preise ist laut E-Control, dass Gaskraftwerke sich nicht mehr rechnen, wodurch mehr Kohlestrom – z. B. in Deutschland – auf den Markt drängt. Deutschland plante den Ausstieg aus Kohle- und Atomstrom, was aktuell allerdings wieder neu debattiert wird. Frankreich arbeitet an einem Atomkraft-Revival. Alles deutet im Augenblick mehr auf ein Abrücken von der Energiewende als auf einen „European Green Deal“. 

WARM ANZIEHEN 

Die neuen Energie-Rekordpreise sind noch nicht ganz in der breiten Masse der Bevölkerung angekommen. Zurzeit sind nur die hohen Spritpreise tatsächlich spürbar – erstmals bei Diesel und Super über zwei Euro pro Liter. Die Strom- und Gaspreise hingegen werden noch nicht bewusst wahrgenommen. Spätestens im Herbst werden die Jahresabrechnungen ins Haus flattern und zu einem Thema der politischen Sonderklasse werden. Beispiel: Als Gaskunde muss man mit einer Arbeitspreisverdopplung „glücklich“ sein, sprich auf rund 5 Cent/kWh im untersten Preissegment. Zu Redaktionsschluss wurden beim E-Control-Tarifkalkulator Preise bis rund 10 Cent/kWh angeboten. Das entspricht einer Steigerung von 100 bis 300 % verglichen mit den günstigsten Preisen vor der Hausse. Ähnliches ist beim Strompreis zu beobachten. 

Die größte Überraschung werden Kunden mit „Flexi-Tarifen“ erleben, die sich quartalsweise an die Marktgegebenheiten anpassen. Hier wurden der Redaktion Gaspreise von bis zu 40 Cent/kWh gemeldet. 

ENERGIEPAKET VERABSCHIEDET 

Neben der Gas-Diversifizierungsstrategie schnüren die EU-Mitglieder Energie-Hilfspakete. Im Zentrum des heimischen stehen eine Senkung der Energieabgaben für Gas und Strom (900 Mio. Euro), Entlastungen für Pendler (400 Mio. Euro), Preissenkungen und Ausbau von Öffis (150 Mio. Euro), Entlastungen für KMU mit hohem Treibstoffverbrauch (120 Mio. Euro), Unterstützung für Betriebe zum Umstieg auf alternative Antriebsformen (120 Mio. Euro) sowie 250 Mio. Euro zur Unterstützung von Investitionen in Photovoltaik und Windkraft. 

Das Paket steht im Widerspruch zu einer ökologischen Steuerreform und setzt für die Umstellung des Energiesystems ein falsches Signal, wenn es um die Entlastungen für fossile Energieträger geht. Diese Maßnahmen bremsen den Umstieg auf ökologische Alternativen. 

EE STABILISIEREN PREISE 

Die Preisexplosion bei fossilen Energieträgern und damit auch der Strompreise lassen die Inflation in die Höhe schießen. Im Februar erreichte der VPI +5,9 %. Ein Jahr zuvor lag er bei +1,2 %. Erneuerbare Energiequellen sind mittlerweile deutlich billiger als die fossilen Pendants. Die Erneuerbaren dämpfen die Inflation und stabilisieren die Preise, da sie langfristig keinen großen schwankenden Rohstoffpreisen unterliegen. 

„Wir verfügen über das Potenzial, Österreich bis 2030 zu 100 % mit erneuerbarem Strom zu versorgen. Wir haben auch alle Möglichkeiten in der Hand, die Wärmewende zu vollziehen und bis 2040 gänzlich auf fossile Energie verzichten zu können. Wir müssen nur jetzt endlich die richtigen Entscheidungen treffen und die richtigen Wege einschlagen“, fordert Martina Prechtl-Grundnig, Geschäftsführerin des Dachverbandes Erneuerbare Energie Österreich. Auch die einzelnen Verbände haben klar dargelegt, dass auch kurzfristig Potenziale gehoben werden können (siehe Beiträge S.6, 7, 8, 10 und 11).