Kommentar; #123/2022, S. 1

15.11.2022

In aktuellen Krisensituationen haben es Grundsatzüberlegungen schwer. Ja, im Grundsatz sind wir alle gegen Atomkraftwerke – aber wenn die Versorgungssituation einmal so ist, wie sie ist, dann bekommt die Kernenergie plötzlich neuen Charme. Und die Kohle sowieso. Erdgas ist uns willkommen, wo immer es auch herzubekommen ist – schließlich halten wir es mit dem Rohöl ja auch so. Klimaschutz? Ja, sicher. Aber vielleicht ein bisserl später. Warum eigentlich nicht? Es ist zweifellos unpopulär, gerade jetzt CO2 zu bepreisen. Es ist ebenso zweifellos besonders schwer, gerade jetzt zu erklären, dass hohe Preise an der Zapfsäule grundsätzlich wünschenswerte Effekte auslösen. Ja, es ist schmerzhaft, wenn man aktuell besonders viel fürs Tanken und Heizen zahlen muss. Und die Regierung tut gut daran, mit ihren diversen Förderungen den akuten Schmerz zu lindern. Aber mittel- und langfristig sieht das anders aus: Grundsätzlich ist es richtig und sinnvoll, dass fossile Energieträger teurer werden. Und noch grundsätzlicher: Wir müssen uns die Frage stellen, ob das Auto (egal mit welchem Antrieb!) das richtige Fortbewegungsmittel für die meisten Fahrten ist. Und: Ist es wirklich notwendig, dass Wohnen und Arbeit so weite Wege dazwischen erfordern? Wenn wir gerade beim Wohnen sind, lohnt eine weitere Überlegung: In der aktuellen Diskussion wird viel über die Preise für das Heizen gesprochen, wenig darüber, dass es für die Menschen ja nicht um die Energie geht, sondern darum, dass die Wohnungen ausreichend temperiert sind – grundsätzlich also geht es um das Zusammenspiel von Bau, Isolierung, Heiz- und in Zukunft immer öfter auch Kühl-System. Wir dürfen uns durch die aktuelle Krise nicht den Blick auf solche Grundsatzfragen verstellen lassen.

Conrad Seidl